PROGRAMMHEFT

AGENT JAMES BOND JAGT DR. ALGORITHMUS

 

James, tatsächlich getroffen von einem tödlichen Geschoss, fällt atemlos und schwer in unendlich tiefes Wasser; sinkt wie ein Stein. Blut entströmt der Wunde und leuchtend rote Wolken werden von einer unerbittlichen Kraft ins Nichts geweht. Stumm grinsende Totenschädel mit hohlen Augen verschlingen langsam und unerbittlich sein schwindendes Leben. 

Dann: Schwarze Messer fallen vom Himmel, bohren sich in den widerstandslosen Boden und formieren sich zu Grabsteinen auf einem Friedhof. Schon bald wünscht man sich - als sei es ein wirklicher Traum - bitte wieder zu erwachen!, insgeheim jedoch auch, dieses Karussell von Todessymbolen mit wohligem Schaudern weiter beobachten und im behaglichen Kinosessel überleben zu dürfen.

 

Schließlich: Wohlgeformte, zweifellos nackte weibliche Silhouetten, tanzen sekundenlang nur für mich, dienen mit unerhörten Kurven als Projektionsfläche und entschwinden meinem Auge. Endlich färbt sich die Leinwand in das traditionelle Blutrot und im Zentrum des Pistolenlaufs bedroht mich der Schattenriss eines Agenten im Smoking. Am Ende des Vorspanns liegen nun zwei Stunden spannende und zugleich gut berechenbare Unterhaltung mit meinem Lieblingshelden vor mir; wohlbekannt unter dem bescheidenen Kürzel 007.

 

Es existiert ein ganzes Bond-Universum mit Licht, Schatten und wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten. Genau so, wie mein Hirn einen Serotoninausstoss verzeichnet, wenn es die Melodieführung eines Liedes vorausahnt, genau so entzückt es sich, wenn Commander Bond mal wieder in letzter Sekunde unseren Planeten rettet.

Der geniale Bösewicht hatte also wieder eine Maschine, eine teuflische Strategie entworfen, um die Menschheit zu unterwerfen. Er bedroht nun die gesamte zivilisierte Welt, inklusive dem für das Happyend auserkoren Bond Girl. Doch James gewinnt gegen ihn, befreit die Schöne und verliert sich wiederum an sie. Für wenige Filmminuten entbrennt er in tragischer Liebe und nachdem er zuverlässig die Apokalypse abwenden konnte, verschwindet er wieder im Dunkel der Nacht, solange, bis ihn der nächste Spezial-Auftrag ereilt. So läuft dieses Perpetuum-Mobile seit über 50 Jahren.

Ian Fleming erdachte sich diesen Superagenten in den frühen 50ern des letzten Jahrhunderts. Zehn Jahre später beförderte Sean Connery seine kesse Filmkollegin, mit einem beherzten Judotrick ins Heu, wo sie sich kokett strampelnd seinem dominanten Liebesspiel hingab. (Wir erinnern uns an den   überaus einprägsamen Rollennamen "Pussy Galore") Aber sogar im Jahr 2015 ist es noch eine kleine Sensation, dass ein Mr. Bond eine Witwe verführt, die nicht 10 oder 20 Jahre jünger ist als er.

Seit der Einführung von Daniel Craig in die Rolle des James Bond, hat sich deren Interpretation deutlich geändert und modernisiert. Aber welchen Wert besitzt dieser leicht angestaubte, smarte Aktion-Held noch in unserer heutigen Zeit?

 

Für die Filmindustrie der letzten Dekaden wird sich zweifellos eine recht beeindruckende Summe ergeben. Obwohl Herr Bond origineller Weise ein geheimer Agent ist, erfreuen sich er und damit die Produzenten Broccoli und Wilson an seiner immensen Popularität. Die Marke Bond verkauft sich äußerst gut. Immer wieder beruft sich die Werbekampagne eines X-beliebigen grauen Produkts auf eine „Lizenz zum ...“ Geld verdienen, wenn dieses „geschüttelt wird und nicht gerührt“.

 

 

James Bond wird in der Regel nicht zu ernst genommen, ist aber zweifellos bekannt und beliebt. Für viele Kinobesucher ist er die  Nummer Eins. Im Film ist es jedoch anders. Das Streben nach Alleinherrschaft, der solitären Zahl Eins ist dem Superschurken vorbehalten. Die Figur dieses verbindlichen Briten ist hingegen kein Held, der auf einem Siegerpodest gefeiert wird. Er ist wie ein Soldat, ein moderner Ritter; scheinbar im Drachenblut gebadet, kann er nur an dieser einen geheimen Stelle verwundet werden. Die Achillesferse, der Abdruck des Lindenblattes auf Siegfrieds Rücken, ist äquivalent zu James' Draufgängertum und seiner Schwäche für das schöne Geschlecht. Offensichtlich muss diesbezüglich bei dem smarten Agenten der Verstand aussetzten. Und wer würde das nicht verstehen und vielleicht insgeheim gar bewundern? Sogar Alex Younger, der Chef des realen britischen Auslands-Geheimdienstes bestätigt, dass die Figur des James Bond nicht nur Fluch, sondern auch Segen ist.

Welchen Wert ergibt die Addition eines modernen Helden

mit einem auf Hochglanz polierten Sportwagen?

 

Tatsächlich leben wir insgeheim in einer Welt, in der sämtliche Wissenschaftszweige und gigantische IT-Firmen fieberhaft daran arbeiten, die Herrschaft der Zahlen zu verwirklichen, die Menschheit zu unterjochen und den einzelnen lediglich an seinem Konsumvermögen zu messen. Eine Insider-Geheimsprache der Finanzelite schützt diese vor unserem Einblick und vermag Gier, Kaltblütigkeit oder Egoismus zu verschleiern, auch beim eitlen Blick in den Spiegel.

 

Rankinglisten sind allgegenwärtig; schon lange nicht mehr nur bei sportlichen Wettkämpfen, sondern auch in den Ergebnissen von Suchmaschinen, Bestsellerlisten, Hitparaden, Sketchparaden, Talentshows- und disneyhaften Partnerparaden. Optimierung wird auf allen Ebenen praktiziert. Blind folgen wir den Kaufempfehlungen dieser Listen, um Zeit einzusparen.

 

Und so wird unser Leben in dieser äusseren Welt gemessen und gewogen; sei es der Abstand zweier Atome, der Abstand zweier Galaxien, oder der Abstand zweier Parship Nutzer. Am Ende steht ein Algorithmus, ein Quotient, eine Zahl, ein scheinbar objektives Ergebnis: DAS BIN ICH. Wir sind die Nr.1. Sie ist 90-60-90 und benutzt No. 5. Er fährt 760 PS, sein Körperfettanteil liegt bei 11,5%, seine Waffe hat 6 Schuss, Kaliber 9mm, seine Armbanduhr 2 mal 12 Stunden und 200m Seilwinde. Pro Film macht er 26500 Schritte, schläft 0,0 Stunden, aber mit durchschnittlich 2,6 Supermodels. Das sollte in der Summe 007 ergeben.

 

Doch das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das ist eine Binsenweisheit.

 

"Bond, James Bond" Ein Idol, eine Ikone, ein Mythos, ein Held der in 24 Bond Filmen und Dutzenden Persiflagen kopiert und bekräftigt wurde. Wir sehen das Gesicht von Daniel Craig und denken an blutverschmierte Maßanzüge, Aston Martin und nicht zuletzt atemberaubend schöne Frauen. Aber auch an Loyalität, Charme, Understatement, Durchsetzungsvermögen und den unbedingten Willen dort zu geben und zu kämpfen, wo Wirtschaftlichkeit eben nicht mehr gegeben ist. Er setzt sein Leben ein gegen die Bedrohung der konservativen englischen, europäischen, ja westlichen Werte. Das hat heute mehr denn je einen durchaus wahren und Besorgnis erregenden Hintergrund.

 

 

Aber haben diese Filme darüber hinaus irgendeinen Bezug zu unserer Lebensrealität, oder ist das nur Rosamunde Pilcher für Männer? Ein traditionsreiches Testosteronfest mit Ventilfunktion, ähnlich der alkoholisierten Bollerwagen-Wanderung am Vatertag?

Alex Younger sagt deutlich, dass ein Herr Bond niemals beim britischen Geheimdienst angestellt sein würde; Patriotismus und Energie hin oder her. Das wird auch jedem Kinobesucher insgeheim klar sein. Der Lebensentwurf des Commander Bond ist generell nicht erstrebenswert, aber man muss eingestehen: Ständig widersetzt sich dieser englische Beamte dem Quantifizierungs-, Messbarkeits-, und Kontrollwahn der modernen Gesellschaft. Er schaltet die Sonde aus, schneidet sich den Peilsender aus dem Fleisch, entzieht sich der Überwachung durch seinen Mi6 und scheint trotzdem im Sinne des Guten handeln zu können, nur weil er sich in diesem Moment aus freiem Willen dafür entscheidet. Wieviele Boote, Autos, Flugzeuge und Häuserblocks darf er ungestraft in die Luft sprengen, um ein einziges Leben zu retten, oder vielleicht eine einzige Stunde mehr mit diesem engelsgleichen Geschöpf zu verbringen?

Die hoch-wirtschaftlichen Bond Filme propagieren nicht nur Gewalt und die Superlative von Technik und Luxus-Konsum, sondern auch den Wert von Freiheit und erinnern uns an die Nicht-Messbarkeit von Moral und Menschlichkeit. In Zeiten der Demontierung aller Götter, Helden und Heiligen, gibt es hier die Darstellung eines einsamen Ritters, dem wir unbedingtes Vertrauen schenken dürfen. Wir sind absolut sicher, dass er uns am Ende retten wird. Mit den Worten seiner Chefin „M“: „Ich würde es nie sagen, aber James ist einfach der Beste.“

 

 

 

 Markus Streubel /2016